Kurt Eggenstein: 'Der Prophet Jakob Lorber verkündet bevorstehende Katastrophen und das wahre Christentum', IV. Teil
Die folgende Periode der bibelkritischen Forschung war wenig fruchtbar; sie befaßte sich vorwiegend mit den Wundern, die Jesus vollbrachte. Diese Frage wurde ganz nach rationalistischen Gesichtspunkten bearbeitet, wobei der Heidelberger Geheime Kirchenrat Prof. Paulus für jedes Wunder ohne Ausnahme eine natürliche Erklärung vorbrachte. Seine Arbeit wurde später selbst von D. Fr. Strauß als Fehlleistung gekennzeichnet.
Einen enormen Erfolg hatte Ernst Renan (1823-1892) mit seiner Schrift Das Leben Jesu (1863). Sie wurde in 15 Sprachen übersetzt und erlebte 70 Auflagen. Es ist aus der heutigen Sicht schwer zu verstehen, daß dieses Buch, das so viel Ungereimtes enthält, solchen Anklang finden konnte. In romanhaftem Stil ließ Renan seiner Phantasie freien Lauf, aber offenbar glaubte man ihm mehr als dem Evangelium. U. a. schreibt er:
„Jesus floh nicht die Freude, sondern besuchte gern Hochzeitsvergnügen." „So durchwanderte er Galiläa unter steten Festlichkeiten." 37 (!)
„Das schöne Klima Galiläas machte die Existenz dieser redlichen Fischersleute zu einem beständigen Zauberleben." 38
Man glaubt, einen Aufsatz des kleinen Moritz zu lesen, aber nicht ein Werk, das 70 Auflagen erlebte. In nicht zu überbietender Anmaßung glaubte Renan, daß das Problem der historisch-kritischen Untersuchung des Evangeliums durch ihn in einer Weise gelöst worden sei, „die den Bedürfnissen der Geschichte völlig zu genügen vermag" 39 .
Renan sah in Jesus einen Lehrer, der ein irdisches Reich errichten wollte. 40
F. Ch. Baur (1792-1860) sieht in den synoptischen Evangelien nur einen zwischen den Evangelisten tobenden Kampf. Matthäus und Markus verteidigen nach seiner Ansicht die jüdische Richtung (Judaismus), während die paulinische Richtung des Lukas das Judentum ausschalten will (Paulinismus). Diese Hypothese des Gegensatzes, der in dieser scharfen Form überhaupt nicht existiert, wird heute von der Forschung einhellig abgelehnt. Das Johannesevangelium sieht Baur als wertlos an (!), weil es nach seinen Vorstellungen zwischen beiden Richtungen zu vermitteln suche. Während einige Forscher die Entstehung des Christentums aus dem Spätjudentum erklären wollten, sahen andere - die Vertreter der religionsgeschichtlichen Schule - die Entstehung aus Elementen der Welt des Hellenismus an, wieder andere behaupteten, das Christentum sei nur eine „synkretistische Religion", d. h. es seien Elemente aus den verschiedensten damaligen Religionen, insbesondere aus den Mysterienkulten übernommen worden. Es kann hier auf die Einzelheiten der verschiedenen Theorien, die heute ohnehin allgemein nicht mehr akzeptiert werden, nicht eingegangen werden.
In der neuesten Literatur wird der Irrweg der damaligen Forscher wie folgt kommentiert: „Die ausgebreiteten religionsgeschichtlichen Forschungen haben trotz mancher unkritischer Spekulation nicht dazu geführt, Jesus' und das Christentum nur als Ausdrucksformen jüdischer und hellenistischer Religiosität neben anderen zu begreifen. Sie haben ihre unverwechselbare Eigenart .. . aufgewiesen." 41
Wer die Frage der Durchsetzung der Lehre Jesu in einer feindlichen Umwelt mit dem Intellekt bewältigen will, muß scheitern, denn das Christentum hat Wurzeln in einer Dimension, die der erfahrbaren Erkenntnis nicht zugängig ist. Das Wirken dieser Kraft ist historisch nicht zu erklären.
Der evangelische Theologe David Friedrich Strauß (1808 bis 1874), ein Schüler von Ferd. Christian Baur, glaubt zwar im Gegensatz zu andern damaligen Forschern an die Existenz des Jesus von Nazareth, wertet aber die Evangelien als Mythos - als erfundene Geschichten - ab. 42 Er versteigt sich in seiner rationalistischen Betrachtungsweise zu dem Satz, er sehe Jesus „ganz nahe dem Irrsinn". *1) H. Daniel-Rops bemerkt hierzu treffend, daß der Narr niemals Erfolg habe, und hier überwiege das Lächerliche noch das Verletzende. 43
Auch Strauß hatte einen ungeheuren literarischen Erfolg. Es ist eigenartig, daß Schriften, die heute von der Wissenschaft als eine Fehlinterpretation angesehen werden, damals auf das Publikum einen so großen Einfluß nehmen konnten. Die enge und starre Haltung der Kirchen in der Frage der Verbalinspiration hatte offensichtlich in
Kreisen der Gebildeten die Glaubhaftigkeit der Kirchen bereits stark erschüttert.
Während mehrere Autoren in unserem Jahrhundert in Jesus einen politischen Umstürzler und Aufstandsführer sehen, vertritt Friedrich Nietzsche (1844-1900) genau den gegenteiligen Standpunkt. Jesus sei „decadent" gewesen, behauptet er, „ein übersensibler Mensch", der mit der rauhen Wirklichkeit nicht fertig geworden sei. Er sei vielmehr ein „Idiot" im Dostojewskischen Sinne. 44 Nietzsche heißt Jesus einen „heiligen Anarchisten" oder „politischen Verbrecher", in seinen Augen ist er ein „Verführer" oder, wie „Franz von Assisi, ein Epileptiker, Visionär, Neurotiker" 45 .
Ärgerlich gibt Nietzsche seinem Haß Ausdruck, indem er schreibt, die Wurzel alles Üblen sei, daß „die sklavische Moral", die Demut, die Keuschheit und die Selbstlosigkeit gesiegt habe. Prometheus, der keinen Gott über sich ertragen konnte, ist denn auch Nietzsches Symbol. 45
„Es gibt keine radikalere Kritik an Jesus", sagt mit Recht Werner Post, „als die von Nietzsche." 46
Anmerkung des Verf.:
*1) Strauß wurde von der ev. Kirche seines Amtes enthoben.