Jakob Lorber: 'Die geistige Sonne' (Band 2)


Kapitelinhalt 82. Kapitel: Das 7. Gebot im siebten Saal des Kinderreiches.

(Am 4. Okt. von 4 1/2 - 5 3/4 Uhr Abds.)

Originaltext 1. Auflage 1870 durch Project True-blue Jakob Lorber

Text nach 6. Auflage 1976 Lorber-Verlag

01] Wir sind im siebenten Saale; und sehet, in der Mitte desselben auf einer an einer lichten weißen Säule befindlichen Tafel steht mit deutlich leserlicher Schrift geschrieben: „Du sollst nicht stehlen!" - Hier dringt sich beim ersten Anblicke dieser Gesetzestafel doch sicher einem Jeden sogleich die Frage auf:

02] Was sollte hier gestohlen werden können, da Niemand ein Eigenthum besitzt, sondern ein Jeder nur ein Fruchtnießer ist von Dem, was der Herr giebt? - Diese Frage ist natürlich und hat ihren guten Sinn, kann aber auch eben mit dem Rechte auf dem Weltkörper aufgestellt werden; denn auch auf dem Weltkörper giebt Alles, was da ist, der Herr, und doch können die Menschen einander bestehlen auf alle mögliche Art.

03] Könnte man da nicht auch fragen und sagen: Hat der Herr die Welt nicht für alle Menschen gleich geschaffen, und hat nicht jeder Mensch das gleiche Recht auf Alles, was die geschaffene Welt zum verschiedenartigen Genusse bietet? - So aber der Herr sicher die Welt nicht nur für Einzelne, sondern für Alle geschaffen, und ein Jeder das Recht hat, die Producte der Welt nach seinem Bedürfnisse zu genießen; wozu war denn hernach dieses Gebot gut, durch welches den Menschen offenbar irgend ein Eigenthumsrecht eingeräumt ward, durch welches erst hernach ein Diebstahl möglich geworden ist? - Denn wo kein Mein und kein Dein ist, sondern bloß ein allgemeines Unser Aller, da möchte ich Den doch sehen, der da bei dem besten Willen seinem Nächsten etwas zu stehlen vermöchte.

04] Wäre es demnach nicht klüger gewesen, statt dieses Gebotes, durch welches ein abgesondertes Eigenthumsrecht gefährlicher Maßen eingeräumt wird, alles Eigenthumsrecht für alle Zeiten aufzuheben, wodurch dieses Gebot dann vollkommen entbehrlich würde, alle Eigenthumsgerichte der Welt nie entstanden wären, und die Menschen auf die leichteste Weise untereinander als wahrhafte Brüder leben könnten?

05] Dazu muß man noch bedenken, daß der Herr dieses Gebot durch Moses gerade zu einer solchen Zeit gegeben hat, wo aber auch nicht ein Mensch aus allen den überaus zahlreichen Israelskindern irgend ein eigenes Vermögen hatte; denn was da das mitgenommene Gold und Silber aus Egypten betrifft, so war es ein Eigenthum des ganzen Volkes unter der Aufsicht ihres Anführers.

06] Was aber die Kleidung betrifft, so war sie höchst einfach und dabei so armselig, daß da ein einziges Kleidungsstück in euerer gegenwärtigen Zeit sicher nicht den Werth von einigen schlechten Groschen übersteigen würde; und dazu hatte nicht Einer aus den Israeliten einen Kleidungsvorrath, sondern was er am Leibe trug, das war Alles, was er besaß.

07] Dazu kam hernach dieses Gebot; und sicher mußte das israelitische Volk einander mit großen Augen fragen: Was sollen wir einander nicht stehlen? Etwa unsere Kinder, da doch ein Jeder froh ist in dieser gegenwärtigen bedrängten Lage, wenn er so kinderarm als möglich ist? - Sollten wir uns gegenseitig etwa unsere Töpfe stehlen? - Was sollten wir aber dabei gewinnen? Denn wer da keinen Topf hat, der hat ohnedieß das Recht, sich im Topfe seines Nachbars, so er etwas Kochbares hat, mitzukochen. - Hat er aber einen Topf, da wird er es nicht nothwendig haben, sich noch eines zweiten zu bemächtigen, um dadurch noch mehr zum Hin- und Herschleppen zu haben. - Es ist fürwahr nicht einzusehen, was wir hier einander stehlen könnten; - etwa die Ehre? - Wir sind alle Diener und Knechte eines und desselben Herrn, der den Werth eines jeden Menschen gar wohl kennt. So wir einander auch gegenseitig verkleinern wollten, was würden wir dadurch erzwecken im Angesichte Dessen, der uns allzeit durch und durchschauet? - Also wissen wir durchaus nicht, was wir aus diesem Gebote machen sollen. Soll dieses Gebot für künftige Zeiten gelten, falls uns der Herr einmal ein Eigenthum absonderlich einräumen wollte? - Wenn das, da lasse Er uns lieber also, wie wir sind, und das Gebot hebt sich von selbst auf.

08] Sehet, also raisonnirte im Ernste auch hier und da das israelitische Volk, und Solches war ihm auch für seine Lage in der Wüste nicht zu verdenken; denn allda war Jeder gleich reich und gleich groß, d. h. in seinem Ansehen.

09] Könnte aber nun nicht das gegenwärtige gläubige Volk neutestamentlich mit dem Herrn also raisonnirend aufbegehreu und sagen: O Herr! warum hast Du denn dereinst ein solches Gebot gegeben, durch welches mit der Zeit den Menschen auf der Erde ein absonderliches Eigenthumsrecht eingeräumt ward, und durch welches ferner eben zufolge dieses eingeräumten Eigenthumsrechtes sich eine zahllose Menge von Dieben, Straßenräubern und Mördern gebildet hat? - Hebe daher dieses Gebot auf, damit das Heer der Diebe, Mörder und Räuber und allerlei Betrüger und ein zweites Heer der Weltrichter aufhören möchte, jegliches in seiner Art aller Nächstenliebe ledig, thätig zu sein!

10] Ich sage hier: Der Aufruf läßt sich hören und erscheint unter dieser kritischen Beleuchtung als vollkommen billig. Wie und warum denn? - Für's Erste kann man von Gott als dem allerhöchst liebevollsten Vater doch sicher nichts Anderes, als nur das allerhöchst Beste erwarten. Wie sollte man da wohl denken können, Gott als der allerbeste Vater der Menschen habe ihnen da wollen eine Verfassung geben, welche sie offenbar unglücklich machen muß, und das zwar zeitlich und ewig?

11] Wenn man aber Gott doch sicher die allerhöchste Güte, die allerhöchste Weisheit und somit die sichere Allwissenheit nothwendig zuschreiben muß, der zufolge Er doch wissen müßte, welche Früchte ein solches Gebot unfehlbar wird tragen müssen, da kann man ja doch nicht umhin, zu fragen: Herr! warum hast Du uns solch' ein Gebot gegeben? Warum uns durch dasselbe nicht selten namenlos unglücklich gemacht? War es im Ernste Dein Wille also, oder hast Du dieses Gebot nicht gegeben, sondern die Menschen haben es erst nachträglich eingeschoben ihres Eigennutzes wegen, indem sie sich etwa vorgenommen haben, sich von der allgemeinen Zahl ihrer Brüder abzusondern und sich in solchem Zustande dann berechtigter Maßen eigenthümliche Schätze zu sammeln, und durch ihre Hilfe sich dann desto leichter als Herrscher über ihre gesammelten armen Brüder zu erheben? - Sehet, alles das läßt sich hören, und kann Solches Niemand in Abrede stellen; Und man muß noch obendrauf einem menschlichen Verstande einige Körner echten Weihrauches streuen, so er es in dieser Zeit wenigstens der Mühe werth gefunden, die Gesetze Mosis auf diese Weise kritisch zu beleuchten. Aber wer hat bei dieser Kritik Etwas gewonnen? - Die Menschen nichts und der Herr sicher auch nicht; denn es spricht sich in dieser Kritik offenbar nicht die göttliche Liebe und Weisheit aus.

12] Wie aber soll denn dieses Gesetz genommen und betrachtet werden, damit es als vollkommen geheiligt vor Gott und allen Menschen erscheint? Daß es ausspreche die höchst göttliche Liebe und Weisheit und in sich trage die weiseste Fürsorge des Herrn zum zeitlichen und ewigen Glückseligkeitsgewinne? - Also, wie es bis jetzt erklärt ward, besonders in der gegenwärtigen Zeit, hat es freilich nur Unheil verbreiten müssen; daher wollen wir nach der Erbarmung des Herrn die wahre Bedeutung dieses Gebotes enthüllen, auf daß die Menschen in selbem fürder ihr Heil, aber nicht ihr Unheil finden sollen. Um aber das zu bewerkstelligen, werden wir vorerst betrachten, was da unter dem „Stehlen" verstanden werden muß.

01] Wir sind im siebenten Saale. Seht, in dessen Mitte auf einer an einer lichten weißen Säule befindlichen Tafel steht mit deutlich leserlicher Schrift geschrieben: »Du sollst nicht stehlen!« Hier drängt sich beim ersten Anblicke dieser Gesetzestafel doch sicher einem jeden sogleich die Frage auf:


02] Was sollte hier gestohlen werden können, da niemand ein Eigentum besitzt, sondern ein jeder nur ein Fruchtnießer ist von dem, was der Herr gibt? Diese Frage ist natürlich und hat ihren guten Sinn, kann aber auch mit demselben Recht auf dem Weltkörper gestellt werden; denn auch auf dem Weltkörper gibt alles, was da ist, der Herr, und doch können die Menschen einander bestehlen auf alle mögliche Art.

03] Könnte man da nicht auch fragen und sagen: Hat der Herr die Welt nicht für alle Menschen gleich geschaffen, und hat nicht jeder Mensch das gleiche Recht auf alles, was die geschaffene Welt zum verschiedenartigen Genusse bietet? So aber der Herr sicher die Welt nicht nur für einzelne, sondern für alle geschaffen hat, und sonach ein jeder das Recht besitzt, die Produkte der Welt nach seinem Bedürfnisse zu genießen, - wozu war denn hernach dieses Gebot gut, durch welches den Menschen offenbar irgendein Eigentumsrecht eingeräumt ward und wodurch erst ein Diebstahl möglich geworden ist? Denn wo kein Mein und kein Dein ist, sondern bloß ein allgemeines Unser aller, da möchte ich doch den sehen, der da bei allem Wollen seinem Nächsten etwas zu stehlen vermöchte.

04] Wäre es demnach nicht klüger gewesen, statt dieses Gebotes, durch welches ein abgesondertes Eigentumsrecht gefährlichermaßen eingeräumt wird, jedes Eigentumsrecht für alle Zeiten aufzuheben? Dadurch würde dieses Gebot dann vollkommen entbehrlich, alle Eigentumsgerichte der Welt wären nie entstanden, und die Menschen könnten auf die leichteste Weise untereinander als wahrhafte Brüder leben.

05] Dazu muß man noch bedenken, daß der Herr dieses Gebot durch Moses gerade zu einer Zeit gegeben hat, wo auch nicht ein Mensch aus allen den zahlreichen Israelskindern irgendein eigenes Vermögen hatte; denn das aus Ägypten mitgenommene Gold und Silber war Eigentum des ganzen Volkes unter der Aufsicht ihres Anführers.

06] Was aber die Kleidung betrifft, so war sie höchst einfach und dabei so armselig, daß ein einziges Kleidungsstück in eurer gegenwärtigen Zeit den Wert von einigen schlechten Groschen sicher nicht übersteigen würde. Dazu hatte nicht einer aus den Israeliten einen Kleidungsvorrat, sondern was er am Leibe trug war alles, was er besaß.

07] Da kam hernach dieses Gebot. Sicher mußte das israelitische Volk sich untereinander mit großen Augen fragen: Was sollen wir einander wohl stehlen? Etwa unsere Kinder, da doch ein jeder froh ist in dieser gegenwärtigen bedrängten Lage, wenn er so kinderarm als möglich ist? Sollten wir uns gegenseitig etwa unsere Töpfe stehlen? Was sollten wir aber dabei gewinnen? Denn wer da keinen Topf hat, der hat ohnedies das Recht, sich im Topfe seines Nachbarn, so er etwas Kochbares hat, mitzukochen. Hat er aber einen Topf, da wird er es nicht notwendig haben, sich noch eines zweiten zu bemächtigen, um dadurch noch mehr zum Hin- und Herschleppen zu haben. Es ist fürwahr nicht einzusehen, was wir hier einander stehlen könnten. Etwa die Ehre? Wir sind alle Diener und Knechte eines und desselben Herrn, der den Wert eines jeden Menschen gar wohl kennt. So wir einander auch gegenseitig verkleinern wollten, was würden wir dadurch bezwecken im Angesichte dessen, der uns allezeit durch und durch schaut? Wir wissen also durchaus nicht, was wir aus diesem Gebote machen sollen. Soll dieses Gebot für künftige Zeiten gelten, falls uns der Herr einmal ein gesondertes Eigentum einräumen wollte? Wenn das, da lasse Er uns lieber so, wie wir sind, und das Gebot hebt sich von selbst auf.

08] Seht, also räsonierte im Ernste auch hie und da das israelitische Volk, und solches war ihm in seiner Lage in der Wüste auch nicht zu verdenken; denn da war jeder gleich reich und gleich groß in seinem Ansehen.

09] Könnte aber nun nicht auch das gegenwärtige, neutestamentlich gläubige Volk vor dem Herrn räsonierend aufbegehren und sagen: O Herr! warum hast du denn dereinst ein solches Gebot gegeben, durch welches mit der Zeit den Menschen auf der Erde ein gesondertes Eigentumsrecht eingeräumt ward und eben zufolge dieses Eigentumsrechtes sich eine zahllose Menge von Dieben, Straßenräubern und Mördern gebildet hat? Hebe daher dieses Gebot auf, damit das Heer der Diebe, Mörder und Räuber und allerlei Betrüger und ein zweites Heer der Weltrichter aufhören möchte, jegliches in seiner Art aller Nächstenliebe ledig, tätig zu sein!

10] Ich sage hier: Der Aufruf läßt sich hören und erscheint unter dieser kritischen Beleuchtung als vollkommen billig. Wie und warum denn? Fürs erste kann man von Gott als dem allerhöchst liebevollsten Vater doch sicher nichts anderes als nur das allerhöchst Beste erwarten. Wie sollte man da wohl denken können, Gott, als der allerbeste Vater der Menschen, habe ihnen da eine Verfassung geben wollen, welche sie offenbar unglücklich machen muß, und zwar zeitlich und ewig?

11] Wenn man aber Gott die allerhöchste Güte, die allerhöchste Weisheit und somit die Allwissenheit notwendig zuschreiben muß, derzufolge Er doch wissen mußte, welche Früchte ein solches Gebot unfehlbar tragen wird, da kann man doch nicht umhin zu fragen: Herr! warum hast Du uns ein solches Gebot gegeben, warum uns durch dasselbe nicht selten namenlos unglücklich gemacht? War es im Ernste also Dein Wille, oder hast Du dieses Gebot nicht gegeben, sondern die Menschen haben es erst nachträglich eingeschoben ihres Eigennutzes wegen, indem sie sich etwa vorgenommen haben, sich von der allgemeinen Zahl ihrer Brüder abzusondern und sich in solchem Zustande dann berechtigtermaßen eigentümliche Schätze zu sammeln, um durch ihre Hilfe sich desto leichter als Herrscher über ihre gesamten armen Brüder zu erheben? Seht, das alles läßt sich hören, und niemand kann solches in Abrede stellen. Man muß noch obendrauf einem menschlichen Verstande einige Körner echten Weihrauchs streuen, so er es in dieser Zeit wenigstens der Mühe wert gefunden hat, die Gesetze Mosis auf diese Weise kritisch zu beleuchten. Aber wer hat bei dieser Kritik etwas gewonnen? Die Menschen nicht und der Herr sicher auch nicht, denn es spricht sich in dieser Kritik die göttliche Liebe und Weisheit offenbar nicht aus.

12] Wie aber soll denn dieses Gesetz genommen und betrachtet werden, damit es als vollkommen geheiligt vor Gott und allen Menschen erscheint, daß es die höchste göttliche Liebe und Weisheit ausspreche und in sich die weiseste Fürsorge des Herrn zum zeitlichen und ewigen Glückseligkeitsgewinne trage? Also, wie es bis jetzt erklärt ward, besonders in der gegenwärtigen Zeit, hat es freilich nur Unheil verbreiten müssen. Daher wollen wir nach der Erbarmung des Herrn die wahre Bedeutung dieses Gebotes enthüllen, auf daß die Menschen darin fürder ihr Heil, aber nicht ihr Unheil finden sollen. Um aber das zu bewerkstelligen, werden wir vorerst betrachten, was unter dem Stehlen verstanden werden muß. -

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