Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 101


Essäer Roklus und Floran im Gespräch über Stahar.

01] Stahar macht darob ein finsteres Gesicht und sagt darauf kein Wort; denn des Floran Worte haben den Alten doch wieder ein wenig auf heimlich bessere Gedanken gebracht.

02] Aber Roklus, der diese Verhandlung mit der gespanntesten Aufmerksamkeit angehört hatte, erhob sich und eilte schnurstracks zum Floran hin, klopfte ihm auf die Achsel und sagte: ”Ich lobe dich! Du bist ganz mein Mann! Ich nehme dich auf in unser Institut, das da nun steht unter dem wahren Schutze Gottes und unter dem Schutze Roms. Was du nun geredet, das hat dir der Herr eingegeben; es war wie aus meiner Seele gesprochen! Ah, solche Worte tun meinem Gemüte, das den Menschen nur wohl will, überaus wohl! Ich begreife nur das nicht, wie Stahar, der mir wohlbekanntermaßen sonst doch auch gerade nicht aufs Gehirn gefallen ist, bei von ihm gesehenen so außerordentlichen Taten und gehörten und verstandenen Lehren des Herrn noch irgendeinen Zweifel in seiner Brust mag aufkeimen lassen?!

03] Für mich, der ich nun nur etliche Stunden hier verweile, ist das bisher Gesehene und Gehörte viel zuviel, - und Stahar hat so viel gesehen und gehört, und es konnte ihm doch beifallen, den Herrn der ganzen Unendlichkeit der Teufeleien zu beschuldigen! Wein hin, Wein her, ich habe den Wein auch genossen und nehme sehr wahr in mir, daß auch mein Mut um ein bedeutendes gesteigert worden ist; aber meine einmal gefaßten Überzeugungen wanken nicht und würden auch dann nicht wanken, wenn auch meine Glieder ein wenig zu wanken anfingen. Aber beim alten Weißkopf Stahar möchte etwa wohl der alte Römerspruch: "In vino veritas!" (Im Weine ist Wahrheit!) in Anwendung gebracht werden; denn der Wein hat sonderbarerweise die Wirkung, daß er häufig bei den Menschen den dunklen Schleier der Politik lüftet und einem Menschen wider sich selbst die Zunge löst. Und bei solchen Gelegenheiten hat man schon oft so manches erfahren, was sonst aus sehr wohlberechneten, selbstsüchtigen, klugen Gründen mit einem Menschen wäre zu Grabe getragen worden.

04] Stahar war vorher sicher, trotz seines diamantfesten Pharisäertums, sehr in die Enge getrieben worden. Er sah sich mit seinen Gegensätzen für verloren an und ergab sich endlich, weil er kein Loch, irgend zu entwischen, offen fand; aber tief in seinem Allerinnersten blieb er ganz für sich noch immer der alte, diamantfeste Pharisäer. Nun hatte er aber die große Unklugheit begangen, ein wenig zu viel vom edlen Rebensafte zu genießen, und der hat den alten, verstockten Pharisäer aus seinem innersten Versteck herausgeholt und ihn für sich selbst reden gemacht. Wenn bei dem Alten der Weindunst wird verraucht sein, da wird es ihm sicher sehr leid sein, daß er sich selbst so schön verraten hat.

05] Nicht umsonst dichteten die Menschen von den Bacchantinnen, daß sie nicht selten den Menschen zukünftige Dinge und Ereignisse vorhersagten, und man hielt große Stücke auf ihre Aussagen. Bei ihnen machte auch der Wein die wunderliche Wirkung. Auch vom großen Judenkönig David erzählt man sich, daß er viele seiner Psalmen nach genossenem Weine geschrieben und selbst gesungen habe.

06] Wenn der Wein demnach eine solch besondere Wirkung hat, so ist es als ganz sicher anzunehmen, daß sich der alte Oberste der Pharisäer nun selbst zu unserem allgemeinen Besten und trotz seiner früher vorgeschützten totalen Bekehrtheit doch wieder als der stets gleiche und unwandelbare echte Pharisäer geoffenbart hat, eine Menschengattung, vor der selbst die wildesten Bestien der Wälder ihren gehörigen Respekt haben, geschweige ein unter ihrem Joche stehender armer Sünder! - Habe ich recht oder nicht?“

07] Sagt Floran: ”Ja, liebster Freund, du hast in einer gewissen Hinsicht ganz recht; aber doch gibt es dabei noch einen Punkt, der hier in eine berücksichtigende Erwägung gezogen werden kann! Sieh, wenn du einen jungen Baum, der krumm gewachsen ist, beugen willst, so wird der Erfolg bald deine Mühe segnen; machst du dich aber über einen alt gewordenen, krummen Baum her, so wirst du fürs erste allerlei Kraftmaschinen in Anwendung bringen müssen, um den schon sehr steif gewordenen älteren Baum gerade zu machen, und fürs zweite wird es dir nicht an der rechten Geduld fehlen dürfen! Nur von Tag zu Tag wirst du einen ganz kleinen Druck ausüben dürfen, und das so lange fort, bis der Baum ganz gerade geworden ist; wolltest du ihn aber mit aller Kraft auf einmal geradebeugen wollen, so würdest du den Baum abbrechen und somit töten, was doch sicher kein gesegneter Erfolg deiner großen Mühe wäre. - Das scheint auch des Herrn Liebe und Weisheit bei dieser Gelegenheit zu beachten.

08] Unser Stahar wird nun in eine Stellung gebracht, in der er sich in seinem altjüdischen Jehovaeifer sehr geärgert fühlen wird. Was hält sein Aberglaube noch alles für eine Sünde, was nach der reinen Vernunft nie eine Sünde, weder vor den Menschen und noch weniger vor Gott, sein kann! Dazu gehört nach seiner Moral ein reichlicherer Genuß des Weines und das Reden mit einer Jungfrau, die nach seiner Idee noch nicht völlig reif sein könnte! Nun, ist er ganz nüchtern, so geht er offenbar über derlei Kleinigkeiten hinweg; aber er hat ja selbst mehrere Becher Weines vertilgt, und des Weines Naturgeister haben in seinen Eingeweiden nun noch so recht alte, verhärtete Überreste des alten, stockblinden Pharisäertums gefunden, haben sie belebt und zu einem gewissen Aufstande gebracht. Allein, es ist im Grunde die ganze Erscheinung kaum wert, daß wir darüber ein Wort verlieren!

09] Ich habe dem Alten aber schon ohnehin meine ganz wohlgegründete Meinung auf eine sehr verständliche Weise gesagt, und er denkt darüber nun in seinem Halbschlafe nach. Morgen ist er sicher ein ganz anderer Mensch, - und wäre es nicht also, wie ich dir's nun gesagt habe, so hätte schon der Herr Selbst ihm etwas entgegengesagt; aber der Herr, wohl wissend, was an dieser Sache ist, scheint davon gar keine noch so kleine Notiz zu nehmen. Wenn aber Er und die hohen Häupter Roms das Ganze völlig ignorierten, so können auch wir beide völlig versichert sein, daß an dieser Erscheinung nicht mehr gelegen war, als wie ich sie dir nun soeben dargestellt habe. Über das hinaus aber muß ich dir für deinen sehr freundlichen Antrag von ganzem Herzen danken, und zwar mit der für mich sehr erquicklichen Versicherung, daß ich vom selben einen ganz unbedingten Gebrauch machen werde.

10] Denn was Beseligenderes kann`s für einen ehrlichen Menschen auf dieser Erde wohl nicht geben, als zu leben und zu wirken in einer wahren Menschengesellschaft, deren Motto "Liebe und Wahrheit" heißt, wo des Menschen Menschenwert gegenseitig als das heiligste Unterpfand unseres Seins und also völlig als das anerkannt wird, was er von Gott aus ist, und wo alle Glieder wie aus einem Herzen den Herrn lebendigst erkennen, Ihn lieben und Ihm allein alle Ehre geben und auch wie aus einem Munde sagen: "Der Herr allein ist alles in allem, und wir aber sind untereinander lauter Brüder, von denen sich keiner auch nur von ferne einbildet, mehr und vorzüglicher zu sein denn sein Nächster; und soll es schon in der Gesellschaft irgend Unterschiede geben, so sollen diese nur darin bestehen, daß einer dem andern ein größerer Freund zu sein trachtet, um mit vereinten Kräften allen Menschen in der vollsten Wahrheit zu nützen!"

11] Ja, Freund Roklus, das ist des Menschen wahrster und so ganz eigentlich himmlischer Beruf auf dieser Erde: allen Bedrängten und Notleidenden physisch und geistig zu helfen, wo eine Hilfe irgend nur immer noch möglich ist! Und das ist auch der überklar ausgesprochene Liebewille des Herrn; wer dem treulich nachkommt, der wird selbst sicher auch nicht leer ausgehen! - Bist du nicht auch völlig meiner Meinung?“



Home  |    Inhaltsverzeichnis Band 5  |   Werke Lorbers