Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 5, Kapitel 60


Vom Wesen der Liebe.

01] Nun erst entschloß sich Roklus, dem Raphael zu Mir hin zu folgen und mutig die etlichen dreißig Schritte zurückzulegen. Da Ich aber noch beim Cyrenius so wie früher am Tische saß und Mich mit ihm über so manche Regierungsmaßnahmen besprach und Raphael den Roklus in der Richtung zum Cyrenius hin führte, so sagte dieser (Roklus) nach zurückgelegten etwa zwanzig Schritten: ”Ja, nun führst du mich ja eben wieder zum Oberstatthalter hin, mit dem ich schon früher alles abgemacht habe?! Der mir nun zu wohlbekannte Cyrenius wird etwa doch nicht der gesuchte Nazaräer sein?“

02] Sagt Raphael: ”Das sicher nicht; aber der fest neben ihm zur Rechten sitzende, ganz schlicht aussehende Mann ist es! Du kennst Ihn nun und kannst nun schon selbst dich zu Ihm hinbegeben!“

03] Sagt Roklus: ”Wäre leicht, - nur etliche zehn Schritte mehr, und ich stehe knapp bei ihm! Aber was soll ich dann sagen, wie soll ich ihn anreden?“

04] Sagt Raphael: ”Aber mit deinem Verstande, mit deinen Kenntnissen und Erfahrungen da noch sich in einem Wirrsale befinden?! Das wird am Ende mir selbst ein wenig unklar! Gehe hin und sage: "Herr und Meister, hier vor Dir steht ein Hungriger und Durstiger, sättige seine Seele!", so wirst du darauf schon gleich eine geziemende Antwort erhalten!“

05] Roklus tat das mit vielem inneren Bangen, und Ich wandte Mich mit einem ernst-freundlichen Blicke zu ihm und sagte: ”Freund, von Tyrus und Sidon bis nach Cäsarea Philippi und von da bis hierher ist offenbar näher als von hier bis nach Hinterindien, wo die morgenländischsten Sihiniten über Indias höchste Gebirge weit hinaus eine mächtige Mauer gezogen haben! Du suchtest dort die Wahrheit - und wieder nicht die Wahrheit; denn hättest du die Wahrheit auch gefunden, so hättest du die Wahrheit dennoch nicht erkannt! Hättest du sie aber erkannt, so wäre sie dir gar nicht angenehm gewesen; denn ist die Wahrheit nicht völlig geeint mit Liebe, so gleicht sie dem Sonnenlichte im Norden. Es erleuchtet auch die Erde; aber da das Licht ohne Wärme ist, so belebt es nicht den Boden und alles ist wie im Tode erstarrt!

06] Ein Richter sucht nach dem Gesetze auch die volle Wahrheit. Es wird der Verbrecher mit allen Mitteln zum Geständnisse der vollen Wahrheit genötigt, und es werden Zeugen unter den strengsten Eid genommen. Es stellt sich am Ende die volle Wahrheit heraus; aber zu wessen Frommen und Nutzen? Es ist das auch eine Wahrheit ohne Liebe, also ein Licht ohne Wärme, und geht aus aufs Töten! Und siehe, eine solche Wahrheit hast denn auch du gesucht und sie großenteils auch gefunden, - freilich nicht zu deiner inneren Belebung, sondern zur Tötung deines Geistes, welcher da ist die Liebe in eines jeden Menschen Herzen.

07] Weil aber dein Geist durch die Masse der starren und materiellen Wahrheit wie zu Tode erdrückt war, so mußtest du ja notwendig jede Spur vom Dasein eines Gottes verlieren, da Gott auch nur pur Liebe ist in Seinem Urgrunde und nur durch die Liebe wieder begriffen werden kann!

08] Du wußtest zwar so dunkel ahnend wohl, daß die Liebe das Grundelement aller Wesen und Dinge ist; aber was die Liebe in sich ist, das wußtest du nicht und konntest das auch nicht wissen, weil davon dein Gefühl und deine Sinne der Seele nie angeregt worden sind.

09] Dein Wissen von dem Wesen der Liebe glich dem, das du von dem Wesen der Sterne hast. Sie leuchten, aber ihr Licht erzeugt keine Wärme, und du kannst es unmöglich durch irgend etwas nur deinem Verstande Bekanntes erfahren, ob ihr Licht etwa auch von einem Feuer herrühre.

10] Bei der Sonne aber fühlst du die Wärme und urteilst, daß dieselbe ein Feuer sein müsse, und das ein unberechenbar mächtiges, weil es von einer dir nicht ganz unbekannten, überaus großen Ferne die Erde noch so sehr bedeutend zu erwärmen vermag.

11] Vom Monde behauptest du das blanke Gegenteil, weil du von diesem Gestirne noch nie irgendeine Wärme empfunden hast. Von den anderen Sternen behauptest du schon gar nichts, da du von ihrem Einflusse noch nie etwas anderes als nur ihr spärliches Licht empfunden hast.

12] Weil du aber von den dir klein scheinenden Sternen gar so wenig für dein Wahrnehmungsvermögen bekommen hast, so bist du auch nie aus einer Region deines Lebens gewisserart aufgefordert worden, darüber nachzudenken, was etwa doch die Sterne sind, und ob ihr (Leuchten) ein Feuer ist oder nicht, oder ob sie Körper oder nur bloß so irgend wärme- und gewichtlose Lichtpunkte sind.

13] Um von einer Sache aber zu irgendeiner Vorstellung zu kommen, muß man ja doch über dieselbe notwendig einmal nachzudenken anfangen. Um aber über eine Sache mit einem gewissen Eifer nachdenken zu können, muß sie als dessen wert erachtet werden; der Wert aber hängt stets von der Liebe ab, die man zu einer Sache gefaßt hat.“



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