Jakob Lorber: 'Das große Evangelium Johannes', Band 4, Kapitel 134


Mathael kommt zum sterbenden Vater des Lazarus. Die sonderbare Naturerscheinung auf seinem Wege nach Bethanien.

01] Sagt Mathael: ”Herr, darf ich nebenher auch jener sonderbaren Naturerscheinung erwähnen, die ich und mein mit mir um die Mitternachtszeit dahin (nach Bethanien) ziehender Vater im Aufgange beobachtet haben?“

02] Sage Ich: ”Allerdings; denn sie hat sehr viel Beziehung auf die Begebenheit, die du vor siebzehn Jahren in Bethanien erlebt hast! Fange du darum nun nur an!“

03] Sagt Mathael: ”Herr, ich sehe, dass Dir nichts unbekannt ist in der ganzen unendlichen Schöpfungssphäre! Für Dich brauchte ich demnach die Geschichte durchaus nicht zu erzählen; aber der anderen Freunde und Brüder wegen erzähle ich derlei höhere Dinge sehr gerne, besonders wo ich es sehe, dass ich gläubigst angehört werde. Es hat zwar alles, was ich euch nun kundgeben werde, einen sehr mystisch und fabelhaft aussehenden Charakter; aber darum ist doch alles wahr, was ihr vernehmen werdet, und so wollt mir denn abermals eure Aufmerksamkeit schenken!

04] Hört! Es war schon sehr spätherbstlich an der Zeit. Der hohen Berge Spitzen lagen im Nebel, und ein durchaus nicht freundlicher Nordwind wirbelte die dürren Blätter der Bäume durch die Luft; nur im Osten gab es noch etliche Stellen, durch die die lieblichen Sterne wie verweint zur Erde herabblickten, welche Naturszene ich und mein Vater, der ein großer Freund der Natur auch in deren unfreundlichem Wirken war, nahe bis gen Mitternacht hin betrachtet haben. Als wir aber anfingen uns anzuschicken, ins Haus zu gehen und darin unser Ruhelager zu nehmen, da entdeckten wir einen Menschen eiligen Schrittes, mit einer Schafurinblasenlaterne in seiner Hand, gerade auf unser Haus losziehen, und es währte kaum etwelche Augenblicke, und ein ziemlich betrübter, noch recht junger Mann stand vor uns.

05] Meinen Vater als einen Arzt gleich erkennend, sagte er in einem wehmütigen Tone: "Freund und Arzt! Ich komme von Bethania her; mein Name ist Lazarus, bin der Sohn des alten Lazarus, den ich über alles liebe! Der ward heute plötzlich sehr krank, und es steht übel aus mit ihm! Unser Rabbi, der zur Not auch so ein bißchen ein Arzt ist, kennt sich bei meinem Vater nun durchaus nicht mehr aus! Er selbst beschied mich zu dir, da du ein außergewöhnlicher Arzt wärest und den Kranken schon in Fällen Hilfe gebracht habest, in denen kein anderer Arzt mehr ein Heilmittel fand. Komme und heile, wenn noch möglich, meinen leidenden Vater!"

06] Sagte mein Vater: "Wenn ein anderer Arzt einen Kranken schon bis an den Tod gebracht hat, da soll dann unsereins wieder Wunder wirken! Das wäre übrigens schon alles recht, wenn man nur auch gleich überall das vermöchte! Ich will mit diesem meinem einzigen Sohne, der mir zur Hand sein muß, weil er die Gabe hat, Geister zu sehen und im Notfalle sogar zu sprechen, denn nun mit dir wohl hinziehen und sehen, was daselbst zu machen sein wird; hättest du aber etliche Saumgäule mitgenommen, die dich schneller herüber und uns nun schneller hinübergebracht hätten, so wäre eine leichtere Heilung erfolgt. Haben sich bei ihm nun aber etwa schon die hippokratischen Todesspuren eingestellt, dann ist es mit dem Heilen vorbei; denn gegen die Macht des Todes ist kein Kräutlein gewachsen, weder auf den Alpen und noch weniger in irgendeinem Garten!"

07] Der Bote Lazarus war mit diesem Bescheide zwar zufrieden, nur bedauerte er sehr, keine Saumrosse mitgenommen zu haben. Wir begaben uns aber nun doch ganz eilig auf den Weg; denn man hatte bei guten Füßen eine gemessene Stunde Zeit bis dahin.

08] Als wir, ganz stumm nachdenkend, unsern Weg dahinwandeln, verschwinden im Osten die Nebel ganz, und es wird heller und heller, - ja, nach etwa einer Viertelstunde wird es so helle wie etwa eine halbe Stande vor Sonnenaufgang. Das hat unsere Aufmerksamkeit in einem so hohen Grade in Anspruch genommen, dass wir trotz aller Eile denn doch stehenbleiben mußten, um zu sehen, woher denn dieses sonderbare Heller- und Hellerwerden komme.

09] Endlich aber wurde es ganz Tag, und über den östlichen Horizont erhob sich förmlich eine Sonne, aber mit einer viel größeren Raschheit als die gewöhnliche oder - wie man zu sagen pflegt - die alltägliche. Aber es wollte bei dieser schnell emporsteigenden Lichterscheinung das untere, östliche Ende oder der östliche Rand nicht zum Vorscheine kommen.

10] Die Lichterscheinung wuchs zu einer Lichtsäule, die in wenigen Augenblicken ihr Haupt bis an den Mittagsstrich heraufschob und bald eine solche Helle und Wärme verbreitete, dass wir genötigt waren, uns unter einen noch ziemlich dicht belaubten Feigenbaum zu begeben, um nicht zu erblinden vor Licht und nicht zu vergehen vor Hitze. Aber bald wurde diese Lichtsäule wieder dünner und dünner, und es schwand das Licht und die starke, durch diese Lichtsäule erzeugte Wärme.

11] Nach einer beiläufig genommenen ganz kleinen Viertelstunde war es mit der Lichterscheinung gar, aber auch mit unserem Schauen; denn es ward darauf, als dieses Licht gänzlich verschwand, derart total finster, und unsere Augenkraft war derart geschwächt, dass wir nicht einmal die Laterne unseres Boten vollends aus- und wahrnehmen konnten.

12] Erst nach etwa etlichen dreißig Augenblicken fingen unsere Augen an, die nötigste Sehkraft wieder zurückzugewinnen, und wir sahen wieder bei dem schwachen Lichte unserer Laterne mit genauer Not den Weg, den wir zu gehen hatten. Die ganze Geschichte hielt uns aber dennoch ganz gut bei einer halben Stande der Zeit nach auf, und mein Vater fragte mich gleich, ob ich bei dieser Lichterscheinung nicht etwa irgendwelche Geister gesehen hätte.

13] Und ich sagte zu ihm, der vollsten Wahrheit gemäß: "Im Lichte, das ohnehin noch um vieles weniger als die Mittagssonne anzusehen war wegen der ungeheuersten Lichtstärke, war nichts zu entdecken, wohl aber unten bei uns auf der Erde. Da wurden mir eine Menge Gestalten nur so halbwegs ersichtlich, - aber alle wie in einem geschäftigsten Zuge gegen Westen; ihre Bewegung war sonach eine homogene (gleichartige) mit der der Lichterscheinung. Nur eine einzige Geistgestalt, die uns sehr nahe kam, war ganz ersichtlich, hatte ein ernstes, altmännliches Aussehen und schien an der Lichterscheinung ein großes Behagen gehabt zu haben. Als aber das Lichtphänomen am Himmel zu schwinden begann, da entschwand auch die Geistgestalt schnell, und zwar, wie es mir vorkam, auch nach Westen, doch etwa so mehr in der Richtung gegen Bethania hin!" Mehr sah ich nicht und konnte darum meinem Vater auch keinen weiteren Bericht erteilen.

14] Unser Führer wunderte sich über mich und meine Sehergabe und glaubte an meine Aussagen; denn er meinte, meine Phantasie und Einbildungskraft könnte noch unmöglich jene dichterische Intensität erreicht haben, dass ich ihr zufolge mir solches aus den Ärmeln gleich so herausbeuteln könnte. Damit hatte er aber auch ganz recht; denn erfinderisch bin ich wohl nie gewesen und besaß als Knabe und Jüngling nahe gar keine Phantasie oder irgendeine Einbildungskraft, wohl aber besaß ich sehr viel Talent für die Erlernung fremder Zungen.

15] Wir kamen aber bei diesen wenig sagenden Betrachtungen endlich nach Bethania und daselbst in das sehr angesehene Haus des Lazarus und fanden den Kranken gerade in den letzten krampfhaften Zügen, von welchen man sagt, dass für sie kein Kräutlein mehr gewachsen ist.

16] Das Bett umstanden zwei weinende, sonst überaus liebliche Töchter des Sterbenden und noch eine Menge Muhmen und Basen und schluchzten und weinten, wie es bei solchen Gelegenheiten schon immer herzugehen pflegt. Unser Führer, als Sohn des Hauses, weinte auch mit und vergaß vor lauter Traurigkeit, meinen Vater zu fragen, ob da noch etwas zu helfen wäre oder nicht.

17] Nur der kleine Rabbi näherte sich meinem Vater, ob etwa da denn doch noch irgend etwas anzuwenden wäre, das den Alten doch zum wenigsten auf eine nur ganz kurze Zeit zur Besinnung brächte. Mein Vater sagte anfangs auf diese Frage nichts, fragte mich aber ganz im stillen, wie es mit dem Alten stünde, und ob etwa die Seele schon anfange, sich aus dem Leibe zu

ziehen und zu erheben.

18] Ich aber sagte dem Vater, wie ich es sah, ganz harmlos: "Die Seele schwebt bereits ganz vollendet bei einem halben Mann hoch in waagrechter Richtung über dem Leibe und ist mit dem Leibe nur noch durch einen haardünnen Lichtfaden verbunden, der nach unseren gemachten Erfahrungen wohl keine sechzig Augenblicke mehr dauern dürfte; der wird ehest zerreißen. Merkwürdig aber ist zu sehen, wie jene ungeheure Lichtsäule, die wir in der großen Natur mit den Naturaugen schauten, sich hier über dem Haupte der Seele wieder zeigt, die gleiche Lichtkraft hat und auch eine sehr wohltuende Wärme von sich ausströmen läßt. Die Seele wendet ihr Auge nicht ab von der Lichtsäule und scheint daran ein großes Wohlbehagen zu haben."



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