Jakob Lorber: ''Das große Evangelium Johannes', Band 2, Kapitel 234


Liebe zum Nächsten und zu Feinden. Hilfe bei Seenot.

01] Sagt der alte Markus: »Herr, ich bin von allem dem, was ich nun mit meinem Hause vernommen habe, so durch und durch ergriffen, daß ich nun beim besten Willen aber auch nicht ein vernünftiges Wörtlein hervorzubringen imstande wäre, geschweige zu bestimmen, wer mir gegenüber ein rechter Nächster ist.

02] Natürlich wäre allerdings der mein Nächster, der meinem Leibe am nächsten stünde, und so er einer Hilfe bedürftig wäre, müßte ich sie ihm geben. Wieder wären meine Nachbarn die Nächsten; wenn sie mich angingen um eine Hilfe, müßte ich sie ihnen nicht vorenthalten. Also sind auch mein Weib und meine Kinder meine Nächsten, und ich muß sorgen für ihr leibliches und geistiges Wohl und Fortkommen.

03] Als ich noch ein Krieger war, da waren auch meine Kameraden meine Nächsten, und es war meine Pflicht, ihnen im Falle der Not eine Hilfe zu leisten. Anderseits ist auch wieder jeder Mensch, welcher Religion er auch angehöre, im Falle der Not mein Nächster, und ich soll an ihm nicht vorübergehen, so er meiner Hilfe bedarf oder mich sich zur Hilfe begehrt.

04] Ja, ich meine, daß man sogar einem Haustiere die Hilfe nicht versagen soll, wenn demselben etwas fehlt. Kurz und gut, wie ich in meinem beschränkten Hausverstande mir's vorstelle, der Mensch soll so schön fein Gottes Regierung nachahmen und in seinem Tun und Lassen denn doch auch seine Sonne über alle Kreatur leuchten lassen, so wie auch Gott Seine Sonne über alle Kreatur leuchten läßt.

05] Freilich kann der Mensch als ein höchst beschränktes Wesen Gott seinen Schöpfer nur eben auch höchst beschränkt nachahmen; aber weil er schon die Ähnlichkeit Gottes in sich trägt oder eigentlich nach dem Ebenmaße Gottes erschaffen ist, so soll er auch das in sich vollends ausbilden, wozu ihm alle die Fähigkeiten verliehen worden sind. - Das ist so meine Ansicht, und Du, o Herr, aber wirst uns allen eine richtige Erklärung geben; denn ich höre Dein Wort tausend Male lieber, als ich selbst rede. Darum rede Du, o Herr, weiter - vorausgesetzt, daß Du in dieser Nacht noch etwas reden willst!«

06] Sage Ich: »Ja, Ich werde reden, obschon die Mitte der Nacht herbeigekommen ist; aber nun machen wir einen kleinen Ruhepunkt und horchen, ob sich vom Meere her kein Hilferuf vernehmen läßt!«

07] Bald auf diese Meine Bemerkung vernahm man vom Meere herüber einen Lärm, aus dem eine Menge von Menschenstimmen sehr wohl vernehmbar waren. Markus und seine Söhne fragten Mich eiligst, ob sie da hinaussollten zur Hilfe allfälliger Unglücklicher, die vielleicht mittels eines schlechten Fahrzeuges den Mitternachtswind zu bestehen haben würden, oder einen Wirbel, der sich vor der großen Bucht gerne ergibt.

08] Sage Ich: »Es ist ein schlechtes Fahrzeug voll junger Leviten und Pharisäer. Sie kommen von der Gegend Kapernaums und Nazareths und sind auf dem Wege nach Jerusalem. Sie haben den Weg zu Wasser dem trockenen Wege vorgezogen, weil er fürs erste näher und fürs zweite nicht so beschwerlich ist; aber sie bekamen in Sibarah nur ein schon ziemlich leckes Fischerboot, und es geht ihnen, da sich ein ziemlich starker Mitternachtswind erhoben hat, nun schlecht, - und so ihnen nicht zu Hilfe geeilet wird, da dürften sie wohl untergehen!«

09] Sagt Markus: »Herr, wahrlich, um die ist kein Schade, so sie den lieben Fischen zur Speise werden! Da möchte ich mir mit dem Zuhilfekommen fast ein wenig Zeit lassen. Aber wenn Du es willst, so soll ihnen dennoch Hilfe gebracht werden.«

10] Sage Ich: »Sagtest du doch selbst sehr richtig, der nach dem Ebenmaße Gottes geschaffene Mensch soll zufolge der ihm dazu verliehenen Fähigkeiten Gott in allem ähnlich zu werden trachten und soll auch seine kleine Sonne, die er im Herzen trägt, über alle Kreatur leuchten lassen und den als seinen Nächsten - ob er Feind oder Freund ist - ansehen, der sich in einer großen Not befindet und einer Hilfe bedarf!

11] Siehe, deine Worte sind recht und wahr, darum du auch danach handeln sollst, ansonst die Wahrheit noch lange nicht lebendig in dir zu Hause wäre! Denn die pure Wahrheit nützt dem Menschen fürs ewige Leben wenig oder nichts, solange er sie in sich nicht durch die Tat lebendig gemacht hat. Hat er aber das getan, so kommt dann das Licht des ewigen Lebens in Strömen und erleuchtet alle Wirrwinkel der Menschenseele, wie am hellen Mittage die Sonne in alle noch so tiefen Täler und Gräben ihr Licht spendet, sie erwärmt und dadurch mit ihrem Leben erfüllt. -Tue darum nun, was du willst!«

12] Sagt Markus: »Also nur schnell zur Hilfe, und trüge das morsche Schiff lauter Bären, Tiger, Löwen und Hyänen!«

13] Sogleich lief der alte Markus mit seinen Söhnen uns Ufer und bestieg auch sogleich ein gutes und ziemlich großes Fischerboot und ruderte hinaus an die Stelle, von wo der Ruf nach Hilfe immer gellender ward.«


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