Jakob Lorber: ''Das große Evangelium Johannes', Band 2, Kapitel 198


Jesus: Was ist Wahrheit?

01] Sage endlich einmal Ich wieder zum Josoe: »Höre du, Mein lieber Josoe! Du hast nun recht weise gesprochen, und es ist darin viel Gutes und Wahres; aber Ich muß dich dabei dennoch auf so manches aufmerksam machen! Darum gib du nun sehr wohl acht: denn sieh, mit einem Weisen, wie du einer bist, kann schon auch Ich etwas tiefer Mich fassen!

02] Du sagtest: >Ich bin allein für die Wahrheit; was unter ihr steht, verachte ich, was aber über ihr steht als Geheimnisse Gottes in sich, das bete ich an und verlange nicht nach der Klarheit dessen, was sich nicht ziemt für die Würmer und für den Staub dieser Erde! In Gott ist die Fülle aller Weisheit, in uns Menschen aber wohnt davon kaum ein Sonnenstäubchen groß!<

03] Ja, es ist ganz gut, rein, recht und billig, nur für die Wahrheit zu sein; aber diesem Grundsatze wirft sich eine mächtige Frage schnurgerade in die Quere und bildet sogestaltig mit deinem in sich ganz löblichsten Grundsatze ein vollkommenes Kreuz! Kannst du oder irgendein anderer für dich diese Frage, die Ich dir geben werde, lösen, dann ist Meine Schulter des Kreuzes ledig geworden.

04] Sage du Mir daher: Was ist die Wahrheit, für die du allein bist? Ist es eine Wahrheit, was du siehst? Sieh, es ist alles ein Dunstgebilde von heute bis morgen, und es kann das, was für heute noch eine volle Wahrheit ist, für morgen schon lange keine Wahrheit mehr sein! Siehe hin, dort im letzten Dämmerlichte der lange untergegangenen Sonne schwebt ein Wölklein in Gestalt eines Fischleins! Sage Mir, für wie lange wird dieses Wölkleins gegenwärtige Gestalt eine Wahrheit bleiben? Siehe, der nächste Augenblick wird dieses Wölkchens gegenwärtige Gestaltung schon einer Lüge zeihen!

05] Wenn Ich dir drei Birnen vorlege, so sagst du, das sei eine Wahrheit, daß da vor dir drei Birnen liegen; Ich aber sage es dir, daß eine jede der drei Birnen mehrere Samenkörner in sich hat, aus jeglich welchem in der Folge eine zahllose Menge von Bäumen entstehen können, die am Ende die ganz gleichen Birnen in höchster Zahllosigkeit zum Vorschein bringen werden! Sind demnach vor dir wirklich nur drei Birnen, die in sich schon eine abgeschlossene unveränderbare Größe bilden, oder sind sie bloß nur drei Scheingrößen, hinter denen, gleich den Kriegern im Bauche des hölzernen Trojaner Pferdes, sich noch eine Unzahl gleicher und auch noch ganz anderer Größen verborgen halten?

06] Wo fängt die Wahrheit an, und wo hört sie auf? Ist der Mensch eine Wahrheit, also wie er ist? Sieh an ein Kind, und siehe endlich an einen Greis! Siehe an eine von Menschenhänden erbaute Stadt! Ist sie eine volle Wahrheit? Sieh, heute steht sie noch, und morgen kann sie schon zerstört werden!

07] Siehe, für den allein, der in sich durch und durch selbst Wahrheit ist, ist auch alles Wahrheit; für den aber, der in sich das nicht ist, ist ja auch notwendig alles andere nur das, was er selbst vorderhand ist.

08] Eine Wahrheit aber, die nur zeitlich wahr ist, ist schon darum keine volle Wahrheit, weil in ihr keine Beständigkeit zu Hause ist; die volle Wahrheit aber muß unwandelbar für ewig das sein im Vollmaße, was sie für jeden einzelnen Augenblick ist, - Was ist demnach die eigentliche, volle Wahrheit?«


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